Auftakt ins zweite Segeljahr

Am achten April geht es hinaus auf die Nordsee. Wir wollen von Vlissingen in einem langen Schlag bis nach Dunkerque segeln, die Windbedingungen sollen günstig sein. Auch die Tidenzeiten passen in unsere Tourplanung, auch wenn sie einen frühen Start erfordern: Wir stehen um fünf Uhr morgens auf und passieren als einziges Boot morgens um sechs Uhr die enge Schleuse, die uns vom Hafen von Vlissingen auf die Westerschelde bringt. Schleusen im Dunkeln – das ist auch für uns das erste Mal. Da ist es gut, dass wir die Schleuse mit ihren direkt auf Höhe der Wasserlinie liegenden Holzbohlen, die sich mit dem Wasser auf- und abbewegen und schwierig abzufendern sind, schon aus dem letzten Jahr kennen. Alles klappt problemlos, und wir sind voll im Zeitplan, als wir auf die Westerschelde hinausmotoren. Es ist schwach windig, und das viel befahrene Fahrwasser mit den dicken Pötten wollen wir schnellstmöglich überqueren. In der Morgendämmerung setzen wir dann die Segel, das erste Mal in diesem Jahr, und sind glücklich über diesen wunderbaren Auftakt der Segelreise.

Der Wind weht für uns passend aus Südost, aber er ist zeitweise etwas schwach, so dass wir unterwegs immer mal wieder den Motor anmachen. So kommen wir gut voran. Am späten Vormittag entscheiden wir uns daher, noch bis Calais weiter zu segeln. Dort sollten wir auch noch im Hellen ankommen, und für die nächste Etappe durch die Straße von Dover ist das mit Blick auf Tide und Wind der deutliche bessere Ausgangspunkt. Dunkerque passieren wir am Nachmittag und werden vor dem Industriehafen von Schleppern per Funk aus dem Fahrwasser beordert, da ein großes Containerschiff in die Werft bugsiert werden soll. Ansonsten verläuft unser entspannter Segeltag ohne besondere Vorkommnisse.

Einen Haken hat unser neues Etappenziel allerdings: Die Marina von Calais ist vom Vorhafen durch ein Wehr mit einer Klappbrücke darüber abgetrennt, und das wird erst ab einem bestimmten Wasserstand geöffnet. Wir kommen zwar noch vor acht Uhr bei schönem Abendlicht im Hafen von Calais an, allerdings bei Niedrigwasser, und das bedeutet, dass wir bis nach elf Uhr abends auf die nächste Brückenöffnung warten müssen. Nach dem langen Segeltag mit 78 Seemeilen hätten wir auf diese Warterei gerne verzichtet.

Wir legen also an einer Warteboje vor dem Wehr an. Und das ist wieder eine Premiere, denn Anlegen an einer Boje haben wir mit unserem Boot bisher noch nie gemacht. Und es ist auch gar nicht so einfach, denn durch das hohe Freibord ist es schwierig, an die Boje nach unten zu kommen und die Festmacherleine dort durchzufädeln. Wir versuchen es, indem Marc langsam seitlich an die Boje heranfährt, und das Manöver klappt auf Anhieb.

Kurz vor Mitternacht haben wir dann das Boot in der Marina von Calais angelegt und liegen endlich in der Koje. Am nächsten Tag können wir zum Glück ausschlafen, denn wegen Starkwind steht ein Hafentag an.

Calais hat aufgrund seiner strategisch wichtigen Lage an der Engstelle des Englischen Kanals eine bewegte, von kriegerischen Auseinandersetzungen geprägte Geschichte. Es war mal in englischer, dann wieder in französischer, kurze Zeit sogar in spanischer Hand, wurde im zweiten Weltkrieg stark zerstört und sogar nach seiner Rückeroberung durch die Alliierten versehentlich von ihnen bombadiert, weil die Flieger es fälschlicherweise für Dunkerque hielten.

Wir erwarten daher nicht viel, als wir am nächsten Tag zu einem Besichtigungsrundgang durch Calais aufbrechen. Und ja, das Stadtbild ist insgesamt wenig sehenswert. Aber ein paar schöne Ecken und interessante Bauten gibt es dann doch zu entdecken, und so sind wir letztlich positiv überrascht von Calais. Um unsere Ankunft in Frankreich noch gebührend zu feiern, gehen wir nach dem Stadtrundgang Moules Frites essen und genießen den Abend sehr.

Am nächsten Tag geht es wieder sehr früh los: Wir legen schon um fünf Uhr morgens ab und passieren kurz danach die Brücke mit dem Wehr. So können wir uns mit dem Tidenstrom nach Boulogne schieben lassen. Bis kurz vor dem Cap Gris-Nez motoren wir, weil der Wind genau von vorne kommt und wir in dem von Fähren vielbefahrenen Bereich nicht kreuzen wollen. Direkt vor dem Kap wird die See dann ziemlich ruppig und wir helfen mit dem Motor nach, doch schon kurz danach segeln wir bei angenehmen Bedingungen auf Boulogne-sur-Mer zu, unserem heutigen Etappenziel. Dort kommen wir am Vormittag an, frühstücken und legen uns dann nochmal in die Koje, um Schlaf nachzuholen. Wir sind froh, diese erste knifflige Engstelle des Englischen Kanals durch passende Wetterfenster so gut hinter uns gebracht zu haben.

Eigentlich haben wir damit gerechnet, auch in Boulogne mindestens einen Hafentag einzulegen und in Tagesetappen erst nach Dieppe, dann nach Fécamp weiter zu segeln. Von dort aus wäre es dann nochmal ein richtig langer Schlag durch die zweite Engstelle des Englischen Kanals nach Cherbourg. Doch die Vorhersage für die nächste Woche lässt uns vermuten, dass dieses letzte Stück schwierig werden könnte, denn passendes Wetter ist noch nicht in Sicht. Und allmählich drängt die Zeit, denn von Cherbourg haben wir bereits eine Zugverbindung nach Deutschland gebucht. Beim Wettercheck am Nachmittag sehen wir dann, dass sich ab dem Abend des nächsten Tages ein Zeitfenster von zwei Tagen mit ruhigerem Wetter auftut. Allerdings kommt der Wind uns so entgegen, dass wir das lange Stück vermutlich kreuzen müssen, und dann wird die Zeit bis Cherbourg knapp, zumal wir um das Kap bei Barfleur die Tidenströmung mit uns haben wollen. Wir überlegen lange, verwerfen den Plan, schauen am nächsten Morgen nochmal und beschließen dann, es doch so machen. Wir legen am frühen Abend ab und motoren zuerst durch unruhige See und Nebel genau gegen den Wind, bis wir nach mehr als vier Stunden den Punkt erreicht haben, an dem das Verkehrstrennungsgebiet Richtung Calais nach Norden abknickt. Kurz bevor es dunkel ist setzen wir die Segel und fangen an, gegen den eher schwachen Wind zu kreuzen. Zuerst machen wir dabei nur sehr wenig Fahrt auf unser eigentliches Ziel zu, doch dann dreht der Wind etwas stärker auf Süden und wir können unseren Kurs um das Kap vor Cherbourg immer direkter anlegen und brauchen schließlich gar nicht mehr zu kreuzen. Nun ist es allerdings zeitweise so schwach windig, dass wir in dieser ruhigen, inzwischen sternenklaren Nacht mehrfach ein Stück unter Motor zurücklegen, bis es wieder zum Segeln reicht. Ab den frühen Morgenstunden haben wir dann schönen Segelwind bei ruhiger See und sind sehr froh, uns für die direkte Fahrt nach Cherbourg entschieden zu haben.

Am Morgen nach der Nachtfahrt wird uns klar, dass wir deutlich schneller als erwartet voran gekommen sind und es auch schon mit der passenden Tide zwölf Stunden früher schaffen können, Cherbourg zu erreichen, zumindest wenn wir die ab dem Nachmittag angekündigte Flaute ebenfalls mit Motor überbrücken. Und so sind wir schon am Abend des zwölften April im Hafen von Cherbourg.

Am nächsten Morgen ist es strahlend sonnig und warm. Das ersten Mal in diesem Jahr herrscht T-Shirt Wetter, und die Palmen und blühenden Kräuterbüsche am Hafen verbreiten ein mediterranes Flair. Wir genießen den wunderbaren Tag und erledigen ein paar kleine Arbeiten außen am Boot, zu denen wir uns bei dem bisher kühlen Wetter nicht motivieren konnten.

Für den nächsten Tag, der zumindest noch zeitweise sonnig sein soll, haben wir einen Ausflug nach Saint-Vaast-la-Hougue geplant. Da wir die richtige Haltestelle nicht gleich finden und daher den vorgesehenen Bus verpassen, fahren wir mit dem Zug nach Valognes, trinken dort einen Kaffee in der Sonne und fahren dann von dort aus mit dem Bus nach Saint Vaast. Das ist ein hübsches Hafenörtchen, das wir zu Fuß aber schnell erkundet haben, zumal der bei Niedrigwasser freigelegte Fußweg auf die Ile Tatihou während unseres Besuchs wegen des Wasserstands nicht begehbar ist. Wir genehmigen uns noch einen Kaffee mit Croissant am Hafen, lassen uns mit dem nächsten Linienbus nach Réville bringen und machen von dort eine kleine Wanderung erst durch Felder, dann entlang der Küste nach Barfleur. Auch wenn es immer wieder schöne Ausblicke aufs Wasser gibt, sind wir etwas enttäuscht von dieser Küstenwanderung. Wir hatten sie uns noch reizvoller vorgestellt, und auch die Sonne verzieht sich mehr und mehr hinter Wolken. Uns wird bewusst, dass wir inzwischen schon ganz schön verwöhnt sind vom Leben auf dem Wasser und die Schönheit dieser Küste uns schon alltäglich erscheint – und für ein unglaubliches Glück wir haben, so ein Leben führen zu können. In Barfleur angekommen hat sich das Wetter schließlich komplett eingetrübt und es fängt sogar an zu regnen, so dass wir froh sind, als wir kurz darauf wieder im Bus zurück nach Cherbourg sitzen.

Durch unseren langen Schlag nach Cherbourg haben wir dort nun eine ganze Woche Zeit. Wir nutzen die Tage, um am Bord noch einiges zu erledigen, was wir vor dem Start in Holland nicht mehr geschafft haben. Wir bauen neue Deckenlampen im Salon und im Deckshaus ein, versuchen – leider vergeblich – die Temperaturregelung unseres Backofens in Gang zu bringen, entrosten und konservieren eine Roststelle in der hinteren Bilge, bringen einen Kratzschutz am Heck an, wo wir bei Nutzung des Dinghies regelmäßig hintreten, bauen einen Handhahn im vorderen Bad ein, der verhindert, dass Abwasser aus der Toilette in die Duschablaufpumpe gelangen kann und und und. Es ist wirklich immer irgendwas zu tun auf so einem Boot, und die Hoffnung, dass die ToDo-Liste jemals komplett abgearbeitet werden kann, haben wir längst aufgegeben. Und das ist vielleicht gut so, denn diese ToDo-Liste ist auch Ausdruck eines gewissen Perfektionismus, der einem das Leben unnötig schwer machen kann. Ein bisschen mehr Gelassenheit und Akzeptieren des Unvollkommenen haben wir schon eingeübt, auch wenn uns beiden das nicht leicht fällt.

Da das Wetter in dieser Woche, die wir in Cherbourg verbringen, meist starkwindig ist, sind wir jedenfalls sehr zufrieden, schon hier zu sein. So können wir auch das Boot ganz entspannt vorbereiten, um es am 21. April für mehrere Wochen hier zurück zu lassen. Wir reisen dann mit dem Zug nach Deutschland, um dort ein paar Termine wahrzunehmen und dann auf einen Chartertörn in Griechenland mit unseren Freunden aufzubrechen.