Die Atlantiküberfahrt

Am 30. Dezember ist es soweit: Wir wollen zur Atlantiküberquerung aufbrechen. Unser Ziel Barbados in der Karibik liegt etwa 4.000 km entfernt, fast genau im Westen. Unser Boot haben wir von Anfang an für eine Ozeanüberquerung ausgesucht und ausgerüstet, und auch unsere Vorbereitung waren darauf ausgerichtet, seit wir unser Leben an Bord begonnen haben. Nun fühlen wir uns bereit, und auch die St‘ Raphaël ist in Top-Form. Trotzdem sind wir nervös. Ich bin seit Tagen angespannt fixiert auf die letzten Vorbereitungen, und selbst Marc zeigt Nerven, indem er beim Check unserer Rettungswesten versehentlich eine CO2-Patrone auslöst. Zum Glück haben wir auch hierfür Ersatz an Bord.

Es ist Nachmittag, als schließlich alle Kleinigkeiten für die Abreise bereit sind und wir ablegen. Von unseren Freunden aus der Langfahrtsegler-Community, deren Boote am selben Steg liegen, werden wir gebührend verabschiedet.

Wir motoren aus der Marina Mindelo heraus und setzen kurz darauf die Segel. So lange wir noch Mobilfunkempfang haben, werden hektisch die letzten Grußbotschaften gesendet und die Wetterprognose aktualisiert.

Die schroffen Felsen von San Vicente und Santo Antão liegen hinter uns und sind das letzte Land, das wir nun für mehr als zwei Wochen sehen werden. Wir sind allein. Was werden die nächsten zwei bis drei Wochen bringen? Wird etwas kaputt gehen? Wie wird es uns ergehen? Wir stehen am Anfang eines großen Abenteuers, gleichermaßen freudig und angespannt.

Die Wettervorhersage für die Überfahrt ist gut. Der Passatwind von Ost nach West ist ausgeprägt und soll uns überwiegend Windstärken von um die vier Beaufort bringen, Böen bis maximal sechs Beaufort und keine mehrtägige Flaute. Besser kann die Vorhersage kaum aussehen, und dass es bei so einem langen Zeitraum Abweichungen davon geben wird, ist uns voll und ganz bewusst. Über unser Iridium Satellitenkommunikationssystem können wir immer wieder aktuelle Wettervorhersagen abrufen und auch ein Routing berechnen lassen, also den optimalen Kurs auf Basis dieser aktuellen Daten.

Abends reffen wir die Segel für die erste Nacht, da der Wind auf fünf, in Böen bis sechs Beaufort auffrischt. Für die ersten zwei Tage habe ich vorgekocht, so dass wir uns zumindest in der Eingewöhnungsphase an das Bordleben nicht ums Kochen kümmern müssen, und wir lassen es uns im Cockpit schmecken.

Unsere zweite Nacht auf See ist die Silvesternacht. Wir prosten uns zum Jahreswechsel mit Tonic Water zu, dem einzigen Softdrink, den wir an Bord haben; auf See trinken wir keinen Alkohol, und da machen wir auch an Silvester keine Ausnahme. So nüchtern sind wir schon sehr lange nicht mehr in ein neues Jahr gestartet.

Um Seekrankheit vorzubeugen, habe ich schon im Mindelo mit der Einnahme eines Medikaments begonnen. Diese Taktik bewährt sich auch jetzt. Mit Übelkeit habe ich gar nicht zu kämpfen, hänge allerdings in den ersten zwei Tagen ziemlich träge und lustlos herum. Doch am dritten Tag ist diese Phase überwunden. Ich bin „eingeschaukelt“ und kann nun ohne Probleme lesen, Video schauen oder auf dem Achterdeck mit dem Blick nach unten die geangelten Fische zerlegen ohne dass mir schlecht wird.

Nach wenigen Tagen haben wir uns auf den neuen Tagesrhythmus angepasst. Über Nacht wechseln sich Schlafen und Wachen im 3-stündigen Rhythmus ab, tagsüber schiebt jeder von uns noch mindestens ein Schläfchen ein. So kommen wir beide ganz gut zurecht und haben nicht das Gefühl, ständig übermüdet zu sein. Gemeinsam über längere Zeit wach sind wir nur von der Mittagszeit bis zum Abendessen. Schon bald gewöhnen wir uns an, am späten Nachmittag eine gemeinsame Kaffeepause im Cockpit einzulegen. Dann wirft das Großsegel Schatten ins Cockpit, und wenn wir ohne Großsegel fahren, spannen wir statt dessen ein Sonnensegel auf.

Nachdem wir uns in den Rhythmus des Bordlebens eingewöhnt haben, vergehen die Tage schnell. Regelmäßig aktualisieren wir den Wetterbericht, passen bei Bedarf unsere Route und die Segelführung an und machen einen Kontrollrundgang an Deck. Kleine Kursanpassungen, Ein- und Ausreffen der Genua, Nachtrimmen der Segel, Ausschau halten nach anderen Booten und Führen des Logbuchs kann jeder von uns alleine. Zum Reffen des Großsegels, zum Ausbaumen der Genua und zum Halsen sind wir zu zweit aktiv. Wir versuchen daher, diese Manöver tagsüber durchführen, wenn wir ohnehin beide wach sind, aber manchmal sind sie eben auch nachts erforderlich.

Die freie Zeit füllen wir mit Lesen, Hörbüchern, heruntergeladenen Podcasts und Filmen und Angeln. Alle paar Tage ist Duschen im Cockpit angesagt, erst mit eimerweise Salzwasser, zum Nachspülen dann mit Frischwasser.

In der ersten Woche weht der Passatwind kräftig mit meist vier Windstärken. Wir kommen gut voran und legen in 24 Stunden meist über 140 Seemeilen (etwa 250 km) zurück. Fast immer segeln wir mit ausgebaumter Genua und haben die Manöver mit dem langen Spibaum inzwischen routiniert im Griff. In der Nacht des achten Tages ist dann schließlich die erste Hälfte der Strecke geschafft.

Es ist für uns immer wieder erstaunlich, wie leer es um uns herum ist. Etwa alle drei Tage ist ein Frachtschiff in der Nähe, wobei „Nähe“ einen Umkreis von etwa 50 km bedeutet. Die meisten dieser Schiffe bleiben so weit entfernt, dass sie unter dem Horizont bleiben und wir nur ihr Signal auf dem AIS (Erläuterung siehe Durch den Nebel nach England) sehen. Zwei Segelschiffen begegnen wir, einem am zweiten, einem am vierzehnten Tag, und wir plaudern über Funk mit ihnen. Beide sind auf der gleichen Route unterwegs wie wir, von Mindelo nach Barbados, und beide sind nach ein paar Stunden für den Rest der Überfahrt wieder komplett aus unserem Sichtfeld verschwunden. Eines Nachts tauchen auf unserem AIS Signale von Bojen auf, und es werden nach und nach mehr. Schließlich sind zwei Reihen mit je fünf Bojen zu erkennen, mit je einem hell erleuchteten Fischerboot am Anfang einer Reihe. Wir sind zwischen die beiden Reihen geraten und passen den Kurs so an, dass wir maximalen Abstand halten, denn vermutlich sind entlang der Bojen riesige Fischnetze gespannt. Wir sind froh, als wir das Ensemble endlich hinter uns gelassen haben.

Auch Tiere sehen wir wenig. Am weitaus häufigsten sind fliegende Fische, die wir regelmäßig auf ihrem kurzen Flug übers Wasser beobachten können. In der ersten Hälfte der Überfahrt landen sie auch regelmäßig an Deck, vor allem in der Nacht, und sterben dort. Ein fliegender Fisch erschreckt mich, als er nachts in der Nähe meines Kopfes am Bootsaufbau abprallt und ins Wasser zurückfällt, ein anderer landet quasi vor meinen Augen auf dem Seitendeck. Er ist der einzige, den ich lebend zurück ins Wasser befördern kann.

Alle paar Tage sehen wir einen Seevogel. Ein Tölpel umkreist eine Weile unser Boot, als würde er sich über dieses seltsame Ding mitten auf dem Meer wundern. Am zwölften Tag sehen wir eine Portugiesische Galeere, eine Staatsqualle, die an der Wasseroberfläche treibt und eine Art Segel hat.

Am dreizehnten Tag landet eine kleine Schwalbe auf unserem Boot. Sie sieht ganz zerzaust und abgemagert aus und umfliegt immer wieder das Boot. Sie scheint völlig verausgabt zu sein und will immer wieder in unser Deckshaus. Wir stellen ihr Wasser und Futter hin, doch sie scheint nichts davon anzurühren. In der Nacht kauert sie sich in eine Ecke auf die oberste Stufe unseres Niedergangs. Wir lassen sie dort in Ruhe sitzen und rechnen nicht damit, dass sie die Nacht übersteht. Doch am nächsten Morgen ordnet sie ihr Gefieder, macht einen Probeflug im Deckshaus und fliegt dann auf Nimmerwiedersehen davon. Ob sie je wieder Land erreicht hat?

Abgesehen von den wenigen Begegnungen ist um uns herum nur Wasser, nichts als tiefblaues Wasser, tagsüber meist mit strahlend blauem Himmel, ein paar Wölkchen und einer stechend heißen Sonne darüber, nachts mit Sternenhimmel oder hellem Mondlicht. Gerade bei Sonnenuntergang oder Sonnenaufgang ist die Szenerie von Meer und Himmel ein wunderbares Naturerlebnis, jeden Tag aufs Neue.

Am elften Tag läßt allmählich der Wind nach, und am zwölften Tag machen wir erstmals den Motor an, weil die Segel in der Flaute mit den Bootsbewegungen nur von einer auf die andere Seite geworfen werden. Zwar können wir schon am nächsten Tag wieder segeln, doch der Wind bleibt nun deutlich schwächer. Das macht es schwierig, bei den oft aus nördlicher Richtung heranrollenden, etwa drei Meter hohen Atlantikwellen einen Kurs zu finden, bei dem die Segel nicht schlagen. Wir sind genervt vom Geschaukel an Bord. Schließlich bergen wir das Großsegel und setzen zusätzlich zur Genua den Klüver, was zumindest auf Raumschotskursen zu passablen Bootsgeschwindigkeiten führt. Doch auch dafür ist schließlich zu wenig Wind, und wir motoren wieder einen Tag lang.

Einen Tag vor unserer Ankunft kommt der Wind dann endlich wieder und auch das Anglerglück: Nachdem ich in der ersten Woche zwei schöne Mahi-Mahi gefangen habe, beißt nun ein Wahoo an.

Zu Sonnenaufgang am 15. Januar ist endlich Land in Sicht: Barbados liegt vor uns. Nach 16 Tagen und 2.130 Seemeilen (etwa 3.900 km) haben wir es geschafft: Wir sind vor dem Hafen Port St. Charles angekommen.

Wir ankern und fahren mit dem Dinghy an Land, um einzuklarieren, dann machen wir einen Spaziergang in den nahe gelegenen Ort Speightown, um eine SIM-Karte zu kaufen. Erst allmählich, beim Sundowner an Bord kommt die große Freude über die Ankunft wirklich in unseren Köpfen an. Wir haben es geschafft, hurra! Alles hat gut geklappt, wir sind gesund und das Boot ohne Schäden – besser kann es eigentlich gar nicht laufen. Wir sind überglücklich, sehr stolz und sehr zufrieden.