Finale Furioso

Es ist noch fast dunkel, als wir am 25. Oktober den Hafen von Boulogne-sur-Mer verlassen. Unser nächstes Etappenziel ist Dunkerque, und durch den frühen Start und die passende Tidenströmung ist die Strecke von etwa 50 Seemeilen bis zum Abend gut zu schaffen.

Das Wetter ist herbstlich trüb und zwischendurch regnet es auch, doch die Bedingungen zum Segeln sind gut. Am frühen Abend erreichen wir die stadtnahe Marina des Yachtclub Mer du Nord und machen uns gleich fertig, um zu einem Stadtrundgang aufzubrechen. Zwei Minuten vor dem Schließen schaffen wir es noch in die Touristeninformation und bekommen dort noch den Hinweis auf einen online Stadtrundgang, der uns auf einem schönen Abendspaziergang zu allen wichtigen Sehenswürdigkeiten der Stadt führt. 

Am nächsten Tag geht es weiter nach Vlissingen. Auch heute haben wir guten Segelwind, doch das Wetter ist noch trüber und nass. Unterwegs erfahren wir über Navtex, einem funkbasierten Informationssystem für marine Verkehrs-, Wetter- und Sicherheitshinweise, dass vor dem belgischen Nieuwpoort militärische Schießübungen angekündigt und alle Boote aufgefordert sind, dem großen Übungssektor fernzubleiben. Für uns bedeutet das einen Umweg auf eine Route deutlich weiter entfernt von der Küste und damit auch ein längeres Streckenstück gegen den Tidenstrom. Um Klarheit über den gesperrten Bereich zu bekommen nehmen wir Funkkontakt auf und erfahren, dass die Übung wegen der schlechten Sicht nur in einem kleinen Bereich in Küstennähe stattfindet. Wir müssen zwar trotzdem unseren Kurs ändern, aber der Umweg ist erheblich kleiner, als er bei guter Sicht gewesen wäre. So hat das Schmuddelwetter auch etwas Gutes.

Unsere neue Mobilfunkantenne am Boot (siehe Beitrag Spuren der Geschichte) beweist heute ihre Vorzüge: Unterwegs haben wir den ganzen Tag über eine Datenverbindung und können damit auch über WLAN telefonieren, als die Smartphones schon keinen Empfang mehr haben. So können wir die entscheidenden Informationen erfragen, um den Liegeplatz für die Wintersaison endgültig festzulegen. Als wir am späten Nachmittag in Vlissingen ankommen ist die Entscheidung gefallen, dass wir nicht hier bleiben werden, sondern in den nächsten Tagen weiter nach Hellevoetsluis im Haringvliet fahren werden. Dort haben wir in einem Nachbarhafen von dem, in dem wir das Boot übernommen haben, einen guten und günstigen Liegeplatz für die Wintermonate angeboten bekommen. Außerdem ist der Hafen gut gelegen, um das Boot von dort zur Reparatur in die Werft zu bringen.

Von Vlissingen aus ist es über die Nordsee eine Tagesetappe zur Schleuse in den Haringvliet in Stellendam. Allerdings ist nach dem guten Segelwind der letzten beiden Tage nun zu starker Wind angesagt, um den Weg über die Nordsee zu nehmen. Daher geht es am nächsten Tag von Vlissingen aus in den Kanal, der durch die Halbinsel Walcheren führt. Bis zum Hauptort Middelburg sind zu bestimmten Zeiten die Schleusen- und Brückenöffnungen so getaktet, dass man quasi mit grüner Welle, dem „Blauen Golf“, durchfahren kann. Und so sind wir am nächsten Morgen nach unserem Aufbruch in Vlissingen zügig in Middelburg und dann im Veerse Meer, einem idyllischen Binnengewässer, das ursprünglich ein Meeresarm war. Es ist trotz des trüben Wetters eine schöne herbstliche Fahrt, mit buntem Laub an den Bäumen am Ufer und Schwärmen von Zugvögeln.

Am späten Nachmittag haben wir den Hafen von Sint-Annaland erreicht. Hier waren wir schon einmal: Auf der Suche nach einem Boot haben wir hier mit den Besichtigungen begonnen. Seitdem ist erst ein knappes Jahr vergangen, doch es kommt uns vor, als sei es schon viel länger her.

Wir warten einen Regenschauer ab und machen dann einen kurzen Spaziergang durch den hübschen kleinen Ort, der jedoch um diese Zeit ziemlich menschenleer ist.

Für den nächsten Tag haben wir uns keine lange Strecke vorgenommen, dafür steht die Passage von zwei großen Schleusen und ein Zwischenstopp zum Tanken an. Vor der Einfahrt in die Krammerschleuse haben wir etwa eine halbe Stunde Wartezeit, die wir zum großen Teil damit verbringen, das Boot sicher an der Wartepier zu vertäuen und eine dabei eingeklemmte Leine zu befreien. Die Starkwindböen sind heute deutlich stärker und länger als am Vortag und machen das Manöver bei Seitenwind schwierig.

Beim Tankstopp in Dinteloord stellen wir fest, dass wir unseren Verbrauch pro Stunde zu hoch berechnet haben, so dass statt 200 Litern Diesel nur 130 Liter in den Tank gehen. Das ist zwar erfreulich, wundert uns aber auch. Wir haben keine Füllstandsanzeige am Dieseltank und bei der Verbrauchsrechnung offenbar den Füllstand des Tagestanks vernachlässigt.

Als wir uns an der Volkerrakschleuse per Funk anmelden und nach der nächsten Möglichkeit zur Passage fragen, erfahren wir, dass die Autobahnbrücke wegen der starken Windböen nicht geöffnet werden kann. Wir werden wieder an eine Wartepier verwiesen, diesmal auf unbestimmte Zeit.

Während wir überlegen, in welchem Hafen wir übernachten können, falls die Brücke heute nicht mehr öffnen kann, bekommen wir die Anweisung, uns für die Einfahrt in die Schleuse bereit zu machen. Ausser uns sind nur Frachtschiffe in der Schleuse, und die sind alle so niedrig, dass sie einfach unter der Autobahnbrücke her fahren können. Wir sind froh, als die Brücke dann endlich für uns hochgeklappt wird und wir passieren können. In der Abenddämmerung legen wir im Hafen von Strijensas an.

Am nächsten Tag geht es über die viel befahrenen Fahrwasser Dordtsche Kil und Oude Maas in den kleinen Kanal Spui, der in den Haringvliet mündet. Bis zur Einfahrt in den Spui haben wir die Strömung erwartungsgemäß mit uns, doch das erwartete Kippen des Stroms im Spui in unsere Fahrtrichtung bleibt aus, bis wir praktisch das Ende erreicht haben. Dieser kleine Kanal, den wir nun schon zum vierten Mal durchfahren, scheint uns einfach jedesmal mit Gegenstrom zu ärgern, egal, in welche Richtung wir fahren.

Die Fahrt durch den Spui erinnert uns stark an unseren Aufbruch vor fast genau einem halben Jahr (siehe Beitrag Die Reise beginnt). Das Wetter ist ähnlich grau und regnerisch mit starken Windböen, und wir sehen praktisch an der gleichen Stelle wieder einen Regenbogen. Wir haben nicht erwartet, am Ende der Sommersaison wieder hierher zurück zu kommen, es hat sich durch die anstehende Reparatur und das passende Angebot für einen Winterliegeplatz einfach so ergeben. Und obwohl wir nun eigentlich im warmen Portugal statt in den kalten und grauen Niederlanden sein wollten, nehmen wir es gelassen. Wir haben im letzten halben Jahr gelernt, mit Planänderungen dieser Art umzugehen. Und diese Rückkehr nach Hellevoetsluis ist kein „Zurück auf Los“, denn wir haben im letzten halben Jahr so viel erlebt und gelernt, dass wir nun mit einem ganz anderen Selbstverständnis zurückkehren. An das Boots als Zuhause haben wir uns gewöhnt und wollen auch den Winter die meiste Zeit an Bord verbringen – und vielleicht ist es ja auch ganz gut, die Wintertauglichkeit der St‘ Raphaël gleich im ersten Jahr zu testen, bevor wir uns an ein Überwintern in wärmeren Revieren gewöhnt haben. Das bevorstehende Ende der Segelsaison bedeutet für uns also nicht das Ende der Bootssaison.

Im Hafen werden wir vom Hafenmeister herzlich willkommen geheißen und fühlen uns gleich wohl. Der Hafen hat angenehme Sanitärräume, eine Waschmaschine, einen Trockner und auch einen Vereinsraum mit vollständig eingerichteter Küche.

An unseren endgültigen Winterliegeplatz können wir erst in etwa zwei Wochen, da er aktuell noch belegt ist. Dafür können wir einen Liegeplatz aussuchen, der in südliche Richtung ausgerichtet ist und damit in der aktuell vorherrschenden Windrichtung. Eigentlich haben wir vor, das Boot am 2. November zu verlassen und nach Deutschland zurück zu reisen, allerdings sehen wir mit wachsender Sorge, dass die Wettervorhersage für diesen Tag immer dramatischer wird: Im Englischen Kanal ist ein Orkan angekündigt, und auch hier soll es Sturm geben. Wir beschließen daher, noch einen Tag länger an Bord zu bleiben und buchen unsere Reise ensprechend um. Wir bereiten das Boot auf den Sturm vor, indem wir die Festmacherleinen mit Gummiruckdämpfern ausstatten und verdoppeln, Scheuerschutz an kritischen Stellen anbringen und in Windrichtung zusätzlich Festmacherleinen von der Mittelklampe an den Steg legen. Die Segel haben wir ohnehin abgenommen und bereits vom Segelmacher zur Durchsicht abholen lassen. Motor und Bugstrahlruder machen wir für alle Fälle startklar.

Und dann kommt der Sturm, wie angekündigt. Als das Boot am Vormittag durch die entstehenden Wellen zu schaukeln anfängt, hören wir es plötzlich rumpeln: Der Bugspriet schlägt an die Trittstufen an, die am Steg vor unserem Liegeplatz angebracht sind, um leichter an Bord zu kommen. Im Sturm justieren wir die Leinen neu, so dass der Bugspriet die Stufenkonstruktion nun nicht mehr erreichen kann. Die oberste Holzstufe ist demoliert und unser Bugspriet hat Kratzer im Lack abbekommen, aber ansonsten ist nichts weiter passiert. Der Sturm nimmt weiter an Stärke zu und erreicht nachmittags seine größte Wucht. Immer wieder sehen wir auf unserer Windanzeige Böen mit Windgeschwindigkeiten über 50 Knoten, also Windstärke 10, im Maximum sind es 58 Knoten.

Ein paar Stege hinter uns sehen wir, dass sich ein Vorsegel im Sturm abgerollt hat und kurz im Wind flattert, dann aber schon bald zerfetzt ist. Ein anderes Boot in unserer Nähe liegt längsseits zum Steg und wird von Wind und Wellen brutal dagegen geworfen. Ein Fender ist bereits geplatzt, eine Festmacherleine am Heck reißt wenig später, und wir fragen uns, ob es hier wohl zu schweren Schäden oder einem Losreißen kommen kann. Irgendwann geht dann jemand dort an Bord und sichert das Boot. Unsere Festmacher halten alle, und nach der Anpassung am Vormittag ist die St‘ Raphael sicher in der Box befestigt. Zunehmend Sorge macht uns jedoch das große Motorboot, das neben uns liegt. Die Festmacher dort sind nicht gedoppelt, ein Ruckdämpfer in Windrichtung ist gebrochen und es scheint unserem Boot näher zu kommen. Wenn sich dieses Boot losreisst und auf uns gedrückt wird, sind wir machtlos. Doch es geht zum Glück alles gut. Bis zum späten Abend lässt der Sturm sehr langsam nach und dreht etwas, so dass der Wind nun genau von vorne kommt. In dieser Richtung hält die Hafenmole die Wellen besser ab, so dass die Boote ruhiger liegen. Ein unbekanntes Geräusch lässt uns zwar mitten in der Nacht nochmal einen Kontrollgang machen und ein paar Leinen im Rigg nachziehen, doch bis auf die Kratzer am Bugspriet überstehen wir und das Boot den Sturm unbeschadet.

Am nächsten Tag klettern wir nach überstandenem Sturm frühmorgens müde mit unserem Gepäck im Regen von Bord. Es herrscht noch Windstärke 6, die uns jedoch wie ein laues Lüftchen vorkommt. Was für ein Finale!