Spuren der Geschichte

Nicht Aberglaube, sondern Wind aus der falschen Richtung lässt uns am Freitag, den 13. Oktober, einen Hafentag in Cherbourg einlegen. Obwohl dies unser zweiter Besuch in der Stadt ist, haben wir davon bisher nur wenig gesehen – und was wir gesehen haben, fanden wir wenig ansprechend: Am Hafen dominieren moderne Zweckbauten, der dahinter liegende kleine Park mit Palmen und Napoleonstatue grenzt an eine gewaltige Strassenbaustelle, die sich durch die Hauptverkehrsstrassen der ganze Stadt zu fressen scheint, und die nahe gelegenen Strassenzüge der Innenstadt wirken schmuddelig. 

Unser kleines touristisches Besuchsprogramm soll diesem oberflächlichen Eindruck etwas Tiefe verschaffen, und, um es gleich vorweg zu nehmen, diesen Zweck erfüllt es. Bei einen Mix aus Sonne und Wolken, klarer Luft und für die Jahreszeit angenehm warmen Temperaturen folgen wir einem touristischen Rundweg am Stadthafen entlang, machen einen Abstecher in ein Einkaufszentrum und gehen weiter in die Innenstadt. Wir entdecken den stilvollen und lebendigen Teil der Innenstadt, gemütliche Plätze und alte Hinterhöfe, die von der Zerstörung der Stadt im Krieg verschont geblieben sind.

Und da am nächsten Tag die Weiterreise erst am Nachmittag ansteht, laufen wir auf den nahe gelegenen Berg zum Fort du Roule. Das Befreiungs-Museum, das die Geschehnisse während der deutschen Besatzungszeit und der Befreiung durch die Aliierten darstellt, hat leider zu, doch auch für die Aussicht auf die Stadt und den Hafen hat sich der Aufstieg gelohnt.

Wir haben uns als nächste Etappe wieder einen langen Schlag vorgenommen. Von Cherbourg aus brechen wir direkt in das etwa 150 Seemeilen entfernte Boulogne sur Mer auf. Die Wetterbedingungen dafür sind gut, den überwiegenden Teil der Überfahrt haben wir halben Wind mit vier Beaufort, was uns zusätzlich zur Strömung ein zügiges Vorankommen beschert. Die ganze Nacht begleitet uns ein wunderschöner Sternenhimmel mit deutlich sichtbarer Milchstrasse. Wir wechseln uns wieder im 3-Stunden-Rhythmus ab, doch die im Vergleich zum Sommer nun viel kürzeren Tage merken wir deutlich daran, dass nun jeder von uns zwei volle Wachen bei Dunkelheit hat. Der andere zieht sich dann in die Kabine zurück, doch der ruppige Seegang lässt uns nur wenig schlafen. Als wir nach 23 Stunden in den Hafen von Boulogne einlaufen, sind wir froh, es geschafft zu haben. 

In Boulogne können wir einen Liegeplatz im Bassin Napoleon haben, einem durch eine Schleuse abgetrennten Hafenbecken. Wir liegen hier in sehr ruhigem Wasser am Kopfende eines Stegs mit einem freundlichen Engländer als Nachbarn, der gleich bei unserer Ankunft völlig aus dem Häuschen ist über unser „beautiful boat“. Tja, während die St‘ Raphaël bei der Überfahrt voll in ihrem Element war und nach dem Ritt durch die Wellen nun auch schön sauber ist, sehen wir zerzaust und müde aus – so ein Boot hält eben mehr als aus die Crew.

Im Hafen entdecken wir Untermieter am Boot: Zwei Garnelen. Sie nutzen das offenen Rohr, das zum Einstecken einer Windsteueranlage am Heck des Bootes vorgesehen ist, als Versteck.

Da wir in Boulogne aufgrund des Wetters mit einem längeren Aufenthalt rechnen, gehen wir ein schon lange anstehendes Projekt an: Die Installation einer leistungsstarken Mobilfunk-Außenantenne inklusive Anschluss an einen Router mit SIM-Karte. So wollen wir uns vom Mobilfunkempfang unserer Smartphones unabhängig machen, zumal der im Innern unseres Stahlbootes wirklich schlecht ist. Zwei Tage sind wir damit beschäftigt, die Antenne am Geräteträger zu befestigen und die vier Antennenkabel in einen Stauraum unter der Liegefläche der Achterkabine zu ziehen, wo das Modem installiert wird. Kurz darauf freuen wir uns über unser eigenes Bord-WLAN-Netz mit Spitzen-Datenübertragung auch unter Deck.

Erst danach machen wir uns auf den Weg zu einer ausführlichen Erkundungstour durch die Stadt. Auch Boulogne wurde im zweiten Weltkrieg teilweise zerstört, und auch hier ist der Bereich um den Hafen wenig ansprechend, geprägt von Hochhäusern, Baustelle und modernen Hafen- und Universitätsbauten. Wir sind eine Weile zu Fuß unterwegs, bis wir die höher gelegene, vollständig erhaltene Altstadt erreichen. Wir schlendern durch die urigen Gassen zum Rathausplatz, der als Gemüsegarten dekoriert ist, spazieren über die vollständig erhaltene Stadtmauer und zum Chateau d’Aumont. Zurück geht es in einem großen Bogen an den vor der Stadt liegenden breiten Strand. Boulogne hat den größten Fischereihafen Frankreichs, und hier am Strand steht Europas größtes Meeresaquarium. Es ist eine überraschend vielfältige Stadt, und obwohl sich am fünften Tag nach unserer Ankunft ein gutes Wetterfenster für die Weiterfahrt nach Dunkerque ergibt, beschließen wir noch zu bleiben.

Das Wetter während unseres Aufenthalts in Boulogne ist oft schlecht, es ist meist trüb und regnet viel. Als es eine Woche nach unserer Ankunft einen schönen sonnigen und nicht zu windigen Tag gibt, machen wir eine Radtour entlang der Küste in Richtung Calais, über den Badeort Wimereux bis zum Cap Gris-Nez. An dem wunderschönen Küstenabschnitt, der Teil der Côte d’Opale ist, wechseln sich Steilküste, breite Strände und Dünenlandschaft ab.

Das Wetter ist so klar, dass man die Kreidefelsen an der englischen Küsten deutlich sehen kann. Unterwegs besuchen wir auch die Batterie Todt, die im zweiten Weltkrieg von den Deutschen zur Verteidigung gebaut wurde, und die nun als Museum besichtigt werden kann.

Während unserer Reise wurde uns immer wieder bewusst, in welch priviligierter und glücklicher Situation wir sind, und wir empfinden dafür große Dankbarkeit. Hier, an der Küste Nordfrankreichs, kommt zu diesem Bewusstsein noch ein historischer Aspekt hinzu: Ständig stößt man hier auf die Spuren der Zerstörung während des zweiten Weltkriegs. Unsere Großelterngeneration hat unfassbar viel Leid über den Kontinent gebracht, und doch reisen wir als Deutsche heute ganz einfach und selbstverständlich von Land zu Land, und die Menschen begegnen uns ohne spürbare Vorbehalte, freundlich und hilfsbereit. Das friedliche Zusammenwachsen Europas ist ein grandioser Erfolg der Geschichte, und die Europäische Union ist das Herzstück dieses Erfolg. Die aktuellen Nachrichten aus der Heimat, dass die in Teilen rechtsextreme AfD gerade bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen deutlich an Stimmen dazugewonnen hat und damit diejenigen politisches Gewicht bekommen, die das Rad der Geschichte zurück drehen möchten, sind für uns beängstigend.

Nach eineinhalb Wochen in Boulogne ist es Zeit für die Weiterreise. Der Herbst ist nun wirklich da, mit Schmuddelwetter, viel Wind und kurzen Tagen. Wir wollen nun zügig in die Niederlande weiterreisen, denn ab Vlissingen haben wir die Möglichkeit, uns mit dem Boot über die Kanäle und mit Wehren abgetrennten Meeresarme viel wetterunabhängiger zu bewegen als auf der Nordsee.