Wilde schottische Inselwelt

Es ist der 10. Juli, als wir die Ankerbucht Puilladobhrain verlassen. In den nächsten Tagen wollen die Insel Mull umrunden. Von der Firth of Lorn führt unsere Route zunächst vorbei an Duart Castle in den Sound of Mull.

Unser Tagesziel ist Tobermory. Mit weniger als zwanzig Seemeilen ist dies eine kurze Etappe, aber das ist uns auch ganz recht so, denn das gibt uns Gelegenheit auf eine Erkundung von Tobermory am Nachmittag. Wir erreichen das Städtchen am frühen Nachmittag. Da wir inzwischen schon einige Erfahrung mit Ankern gesammelt haben, sparen wir uns die Liegegebühren und entscheiden uns, in der Bucht zu ankern. Zwischen einem Bojenfeld und dem Ufer finden wir auf abschüssigem Grund ein geeignetes Plätzchen. Und wir stellen mal wieder fest, wie sich unsere Grenzen verschieben: Früher hätten wir uns nicht so nahe ans Ufer heran gewagt. Doch die Abstandsmessung zeigt auch unter Berücksichtigung der Tide genug Platz an, und wir liegen geschützt und sicher.

Wir rudern mit dem Dinghy an Land und machen uns auf den Weg in die Stadt. Dabei kommen wir direkt an der Tobermory Distillery vorbei. Ohne große Hoffnung darauf, kurzfristig einen Platz in einer Führung zu ergattern, fragen wir trotzdem nach. Und nein, die Führungen sind alle ausgebucht, aber zu unserer Überraschung wird uns angeboten, Whiskeys zu probieren – einfach so. Das lassen wir uns natürlich nicht entgehen, testen einen rauchigen und einen nicht rauchigen Whiskey im Vergleich und bekommen auch noch ein paar interessante Erklärungen dazu. Der rauchige Whiskey schmeckt nach Karins Empfinden im ersten Moment wie ein Biss in ein Kohlebrikett. Da muss man sich erst einmal dran gewöhnen. Doch schon beim zweiten Probieren und im Vergleich zu dem nicht rauchigen Whiskey entfaltet sich dann auch für sie der komplexe Geschmack. Es scheint mit rauchigen Whiskeys wie mit Austern zu sein: Beim ersten Mal schmeckt’s nicht, beim zweiten Mal ist man dann angefixt.

Beschwingt laufen wir nach der kleinen Whiskeyprobe in das hübsche Städtchen, das heißt die kleine Straße am Kai entlang, denn das ist auch schon der Kern von Tobermory. Am Ende des Örtchens entdecken wir einen Yachtausrüster, der sich als erstaunlich gut sortiert erweist. Hier finden wir einiges, wonach wir schon seit einiger Zeit suchen, unter anderem eine Ankerkralle. Das ist ein Metallschäkel, der in die Ankerkette eingehakt wird und an dem dann Festmacherleinen als Verbindung zum Boot befestigt werden, während gleichzeitig die Verbindung der Ankerkette zum Boot entlastet wird. Dadurch lassen sich Spitzenbelastungen an der Ankerkette abfedern, so dass der Anker bei viel Wind oder Schwell noch besser hält.

Zurück an Bord bringen wir unsere neue Ankerkralle auch gleich testweise an und sind zufrieden mit dem Test. Für den Rest des Tages ziehen wir uns dann ins Boot zurück, denn der Regen, der uns nun schon den ganzen Nachmittag begleitet, ist immer stärker geworden und hüllt nun die ganze Bucht in trübe, trostlose Stimmung. Nur den Seehunden, die sich in der Bucht im Wasser balgen, scheint das Wetter egal zu sein.

Am nächsten Tag können wir ausschlafen, denn Tidenströmung und Wind passen erst bei einem Aufbruch am späten Vormittag zu unserer Route. Gegen Mittag passieren wir Point Ardmore und sind damit nun am nördlichsten Punkt unserer Segelreise nach Schottland angekommen. Das macht ein bisschen wehmütig, denn trotz der vielen Erlebnisse haben wir gar noch nicht das Gefühl, schon lange hier unterwegs zu sein. Doch wir sind auch sehr zufrieden, dass wir es auf eigenem Kiel trotz aller Verzögerungen und Planänderungen dieses Jahr (siehe auch Endlich an BordKein Entkommen aus Dieppe und Von Cornwalls Küste ins Blauwasser) nun doch bis hierher geschafft haben. Kurz darauf sehen wir eine große Gruppe Delphine, von denen uns einer ein Stück begleitet.

Was für eine beeindruckende Natur! Die Landschaft zeigt sich beim heute wieder typisch schottischen, wechselhaften Wetter von ihrer spektakulären Seite, wild, rauh und wunderbar. Wir genießen die Fahrt bei schönem Wind unter vollen Segeln und die Ausblicke auf die scheinbar menschenleere Küste der Inseln. 

Als Ankerplatz haben wir die Bucht Bail‘ A Chlaidh, auch als Gometra Harbour bezeichnet, ausgesucht. Die Bucht liegt zwischen den Inseln Ulva und Gometra, ist sehr geschützt, sehr einsam und wunderschön. 

Wir werfen mitten in der Bucht den Anker und rudern mit dem Dinghy an eine Stelle, an der wir an Land gehen können. Auf unserem Spaziergang auf Gometra werden wir mit einem Schild willkommen geheißen und auf die Gallery aufmerksam gemacht: Eine Hütte mit ein paar Dingen des täglichen Bedarfs, vielen lokal hergestellten Produkten, einem Postkasten mit wöchentlicher Leerung und einem Kässchen zur Bezahlung auf Vertrauensbasis. Hier scheint man wirklich in einer anderen Welt angekommen zu sein, fernab von Menschentrubel und Hektik, beschränkt auf die Natur und das Lebensnotwendige. Nicht einmal Mobilfunkempfang gibt es hier. Nur eines der kleinen traditionellen Kreuzfahrtboote, die wir aus Oban kennen (siehe Spaziergang über den Atlantik) geht ebenfalls noch in der Bucht vor Anker. Abends an Bord haben wir dann das erste Mal auch richtig Anglerglück: Es gibt Makrelen satt für uns beide.

Der nächste Tag begrüßt uns mit Nieselregen, doch zum Glück klar das Wetter im Laufe des Vormittags immer mehr auf. Unsere Tour führt uns heute zuerst nach Staffa, einer Felseninsel mit beeindruckenden Basaltsäulen. Sie ist ein touristisches Highlight der Inneren Hebriden, und entsprechend herrscht hier reger Bootsbetrieb. Als wir bei der Insel ankommen, scheint die Sonne, und wir sehen Delphine und viele Papageientaucher, im Flug, im Wasser und auch in ihren Höhlen in den Felsen auf Staffa.

Wir segeln weiter Richtung Süden und erreichen gegen Mittag die Insel Iona. Sie ist bekannt durch eine alte Klosteranlage und ebenfalls ein touristisches Highlight. Wir legen vor dem Strand von Iona mit wunderschönem Blick auf die Insel einen Ankerstopp ein, essen zu Mittag und laden uns, da es nun wieder Mobilfunkempfang gibt, eine aktuelle Wettervorhersage herunter. Wir hatten eigentlich vor, im Sound of Iona in der Ankerbucht Tinker’s Hole zu übernachten und am nächsten Tag zur Insel Jura zu segeln. Doch für den nächsten Tag ist zu wenig Wind zum Segeln vorhergesagt. Wir planen also um und beschließen, noch heute die dreißig Seemeilen bis Jura zu segeln und den nächsten Tag dort in einer Ankerbucht zu bleiben. Auf einen Spaziergang auf Iona müssen wir dafür verzichten.

Auf dem Weg durch den Sound of Iona, die Meerenge zwischen den Inseln Mull und Iona, werden wir vom Strom geschoben. Bei ordentlichem Segelwind von vier bis fünf Windstärken und ruhigem Wasser geht es dann mit durchschnittlich sieben Knoten zügig weiter. Es gibt viele Seevögel, ein Zeichen für den großen Fischreichtum hier. Wir sehen Basstölpel, Trottellummen, Möwen und auch wieder einen Papageientaucher. Wir lassen die Insel Colonsay auf unserer Steuerbordseite liegen und erreichen abends Loch Tarbert, einen tiefen Meereseinschnitt in die Insel Jura. 

Durch eine enge, von Felsen gesäumte Einfahrt gelangen wir in den Inner Loch Tarbert, geleitet durch die Beschreibung im Revierführer und die Peilmarken an den Felsen. Froh, die Engstellen passiert haben, legen wir unseren Anker aus. Wir sind ganz alleine in dieser großen Bucht. Kein anderes Boot ist zu sehen und keine Ortschaft. Nur eine Schutzhütte für Wanderer liegt noch am Inner Loch Tarbert – aber auch Wanderer sehen wir keine.

Der nächste Tag überrascht uns mit frischem Wind statt Flaute, doch haben in der Zwischenzeit genug Vertrauen in unser Ankergeschirr und machen uns mit dem Dinghy auf den Weg, um Loch Tarbert zu erkunden. Durch einen engen Felseinschnitt kommen wir zu einem flachen, kleinen See, dann geht es wieder durch einen schmalen Abschnitt zur Halfway Anchorage, die allerdings nur für ziemlich kleine, flache Boote als Ankerplatz geeignet ist, und schließlich durch einen dritten schmalen Abschnitt zu The Hole, einem kleinen Wasserloch mit über 20 Metern Wassertiefe, umgeben von einer großen, bei Ebbe trocken fallenden Wasserfläche. Auf der ganzen Strecke sind wir umgeben von scheinbar unberührter Natur. Nicht einmal Schafe sehen wir. Erst am Ende von Loch Tarbert, in der Nähe von The Hole, gibt es ein Bötchen im Wasser, einen kleinen Anlegesteg und neben dem Steg einen Geländewagen. Und ja, am Morgen haben wir ein kleines Aluminiumboot an unserem Ankerplatz vorbeifahren sehen, das wohl von hier gekommen sein muss. Wir legen mit dem Dinghy am Steg an und laufen ein Stückchen den Weg entlang, der bei dem Anleger endet.

Auf dem Rückweg zum Boot machen wir noch einen Abstecher in die Schutzhütte für Wanderer. Auch hier ist niemand, außer den Seehunden, die sich in der kleinen Bucht vor der Hütte im Kelp tummeln. Über einen schmalen Pfad laufen wir auf eine Anhöhe, vorbei an einer Stelle am Hang, an der man Torf zum Heizen der Hütte mit einem Spaten abstechen kann. Wir sehen wilde Orchideen und sind verzaubert vom Blick auf Loch Tarbert, diesen großen, einsamen Meereseinschnitt mit seinen vielen Felsen und Inselchen.

Zurück auf der St‘ Raphaël steht noch eine Premiere an: Der erste Haarschnitt an Bord. Auch wenn die Bedingungen bei dem kräftigen Wind nicht ideal sind, Marcs lange Mähne muss nun endlich ab. Nach der Prozedur sind Cockpit und Deck von einem feinen Teppich kurzer Haare bedeckt, und Marc sieht wieder wie ein gepflegtes Mitglied der zivilisierten Welt aus.

Wir genießen den Abend an diesem wunderbaren Fleckchen Erde und sind dankbar für das Glück, diese schottische Inselwelt mit unserem Boot erleben zu dürfen.